Naturwissenschaft

Am Beispiel der Chemie

Es ist ein wolkenloser, sonniger, warmer Frühsommertag. Wir befinden uns auf einem langen Spaziergang, sind müde geworden, spüren unsere Muskeln und Gelenke, und die Gespräche sind fast verstummt. Nun reicht jemand ein frisches, kühles, mit ein wenig Kohlensäure angereichertes Mineralwasser! Schon die kalte Flasche lässt die Hand etwas kräftiger zupacken, auf der Zunge entsteht ein angenehmes Kribbeln, eine klare frische Säuerlichkeit verdrängt den faden Geschmack und die leichte Klebrigkeit im Mundraum, nach den ersten Schlucken hört man ein befreiendes „Aaah!“ und die Unterhaltungen setzen wieder ein. Es ist als ob die kleine Wandergesellschaft wieder wachgeworden ist und nun bewusst die Welt genießen und sich darüber austauschen kann.
Ein zweites Beispiel: Nach ca. einer Stunde Gedankenarbeit mit der zehnten Klasse in einer Epochendoppelstunde beginnt der Versuchsteil. Es wird ein Becherglas mit starkem Essig herumgereicht. Durch die Schüler, die daran riechen geht sofort ein Ruck: aufrecht, mit gerader Wirbelsäule setzt man sich, das Kinn schnellt nach oben, manch erheben sich leicht von ihren Plätzen, auch hier ertönt ein „Aaah“, aber viel kürzer und leicht aggressiv. Sogleich müssen sich die Schüler über ihr Befinden austauschen. Im gesamten Raum breitet sich der aromatisch-säuerliche Essiggeruch aus und die anfängliche Schläfrigkeit nach der anstrengenden ersten Stunde wird durch rege Aufmerksamkeit abgelöst.
In diesen zwei Beispielen wird bereits etwas Wesenhaftes der Stoffe deutlich, die der Chemiker Säure nennt. Um dem Stoffeswesen noch näher zu kommen, wenden wir uns den Erscheinungen zu, die die Stoffe in ihrem Entstehungsmoment zeigen. Die scharfe Erhitzung des blauen, kristallinen Kupfervitriol zeigt besonders deutlich Erscheinungen, die den meisten Mineralsäuren auch eigen sind: der Kristallverbund lockert sich zu einem weißen Pulver, es entweicht zunächst grauer, feuchter Dampf und schließlich wabern schwere graue Schwaden aus dem auf das Glas gesetzte Röhrchen, die scharf, stechend riechen und sehr hustenreizend sind. Diese verdichten sich in einer Vorlage und lassen sich in etwas Wasser gut lösen, das schmeckt dann wieder deutlich erfrischend säuerlich! In konzentrierter Form entfaltet die Lösung ein ungeheuer aggressives Potential: Baumwollstoffe, Holz und anderes pflanzliches Material wird sofort angegriffen und zu einer schleimigen, schwarzen Masse verkohlt!
Der Schüler bekommt durch eine Vielfalt von Experimenten langsam ein Bild der Stoffe, das direkt mit ihm selbst und seinem eigenen Inneren verknüpft ist: es hat sogar den Anschein, als ob die Stoffe Teile seiner eigenen Möglichkeiten in gleichsam konzentrierter Form abbilden. Damit das geschehen kann, muss natürlich zunächst ein großer Fundus an Stoffes- und Phänomenenkenntnis angelegt werden, das ist die Aufgabe der ersten Jahre des naturwissenschaftlichen Erziehungsweges. In der Unterstufe sollte das durch das langsam bewusstwerdende Erleben von Alltagsvorgängen geschehen, in der Mittelstufe dann werden die Vorgänge langsam aus dem Naturzusammenhang herausgelöst und in das Labor übertragen, das sorgsame detailgenaue Beschreiben der Erscheinungen, zeitlich, räumlich und kausal geordnet, wird wichtig. Die Formalisierung der Vorgänge und die Reduktion auf Wesenhaftes kann erst geleistet werden, wenn der Umgang mit Erkennen, Ordnen und Beschreiben der Erscheinungen und Vorgänge selbstverständlich beherrscht wird. Diese Schritte des Erkennens bleiben also der Oberstufe vorbehalten. In der Unterrichtspraxis zeigt sich auch, dass der Umgang mit z.B. chemischen Formeln bei guter Arbeit und Fähigkeit im oben angesprochenen Bereich ab etwa Klasse 10 relativ schnell als Bedürfnis entsteht und dann auch zügig entwickelt werden kann, ohne dass dadurch das persönliche Verhältnis zu den Naturerscheinungen verloren geht. Gesetzhafte Zusammenhänge können direkt aus der Erscheinungsvielfalt abgelesen werden, der Weg über Modellvorstellungen kann in den beiden oberen Klassen so behandelt werden, dass er ein Hilfsmittel zur Erkenntnis des Wesentlichen ist, aber nicht für die Sache selbst genommen wird, so wie das unterschwellig oft suggeriert wird.